Prof. Urs Scherrer: «Da tritt ein neues Virus auf, mässig gefährlich, keine Pest. Experten malen den Teufel an die Wand und die Regierung verfällt in Panik.»
(Prof. Dr. med. Urs Scherrer / NZZ Feuilleton) «Gott ist tot, es lebe die Gesundheit: Notizen eines alternden Mediziners und Bildungsbürgers zur Corona-Krise.» So startet der Beitrag von Prof. Dr. med. Urs Scherrer vom Inselspital im NZZ-Feuilleton.
Weiter schreibt Scherrer: «Ich gehöre zur vulnerablen Gruppe der Alten. Einerseits will mich der Staat schützen, anderseits will er, dass ich in Spitälern aushelfe. Das ist nicht der einzige Widerspruch eines neuen politischen Aktivismus in der Eidgenossenschaft.
Ich hatte das Glück der idealen Geburt am Ende des Zweiten Weltkriegs, hatte grossartige Eltern und Lehrer, genoss unerhörte Freiheiten. Als Gymnasiast leistete ich Freiwilligenarbeit für den Sozialreformer und Poeten Danilo Dolci in Sizilien, als Medizinstudent arbeitete ich mit dem Herzchirurgen Michael DeBakey in Houston. Schweizerische Forschungsinstitutionen ermöglichten mir und meiner Familie einen Forschungsaufenthalt in den USA und dann, bis zu meiner Emeritierung, freie, unabhängige medizinische Forschung am Waadtländer Universitätsspital. Ich lieb(t)e dieses Land, dem ich viel zu verdanken habe, zahlte pünktlich Steuern, hatte Vertrauen in die Institutionen.
Doch inzwischen frage ich mich, ob dieses Vertrauen berechtigt war. Da tritt ein neues Virus auf, mässig gefährlich, keine Pest. Experten malen den Teufel an die Wand, die ratlose Regierung verfällt in Panik und erklärt den Notstand. Das Volk kuscht, die Freiheit ist bloss noch eine Erinnerung, das Land steht still, das Volksvermögen wird hochwassernd die Aare hinuntergespült. Der Staat verfällt in einen inkohärenten Aktivismus.
Verwandlungen, Widersprüche
So mutiere ich auf Geheiss der Regierung von einem einigermassen intakten Forschungsgruppenleiter zu einem vulnerablen, potenziell einzusperrenden Greis, der mittels milliardenschwerer Massnahmen geschützt werden soll. Nur: Will ich das? Eine intensivmedizinische Behandlung endet in meinem Alter nach wochenlangem Siechtum in mehr als der Hälfte der Fälle letal – und bei den wenigen Überlebenden ist sie mit Folgen wie Demenz oder therapieresistenten Depressionen verbunden.
Gleichzeitig erhalte ich Post vom Waadtländer Kantonsarzt. Nachdem sein Aufruf bei den «jeunes retraités» offenbar nicht zur erhofften Massenmobilisierung geführt hat, fordert er «vieux retraités» wie mich dazu auf, Kriseneinsätze zu leisten. Gemäss bundesrätlicher Diktion sollen nun also höchst vulnerable alte Ärzte – die in einigen Kantonen nicht einmal mehr das Recht haben, Medikamente für die nächsten Angehörigen zu verordnen – plötzlich ihr Leben aufs Spiel setzen und mit heroischem Einsatz Sars-CoV-2-infizierte Heiminsassen vor dem Tod retten.
In den Medien grassieren Panikmache und Häme. Man mokiert sich über den britischen Premierminister – hat sich dieser doch an einer seiner, horribile dictu, ohne Social Distancing abgehaltenen Pressekonferenzen mit dem Virus angesteckt. Dass dieses Verhalten in Einklang mit der von den medizinischen Beratern verordneten Strategie stand, die Bevölkerung möglichst rasch zu durchseuchen, ist offenbar nebensächlich.
Boccaccios Dekameron, welch grossartiges Dokument, entstanden in den Tagen einer unvergleichlich viel schlimmeren Krise, verursacht durch die ebenfalls aus China eingewanderte Pest: undenkbar heute! Die Polizei hätte die unzulässige Massenansammlung junger Menschen längst mittels App getrackt, aufgelöst und renitente Teilnehmer abgeführt und gebüsst.
Die wundersame Macht der Bilder
Vor einem Jahr um diese Zeit pflegten und begleiteten wir meine todkranke Frau bis zu ihrem Ableben zu Hause. Während dieser schweren Zeit war jeder der Besuche der Enkelkinder ein heiss ersehntes Fest für meine Frau, ein lebensprägendes Ereignis für die Enkel. Die Abdankung unter Anteilnahme der ganzen Dorfbevölkerung ein zentrales Element für den Beginn der Trauerarbeit. Nicht auszudenken heute. Die Toten werden einsam verscharrt, die Kirchen üben sich in nobler Zurückhaltung.
Das Bild der lächelnd die Hände desinfizierenden Bundespräsidentin und ihres Gesundheitsministers auf der heutigen Titelseite meines Leibblatts. Vorsorgliche Massnahme zum Abwiegeln der Verantwortung für das absehbare Desaster? Macht der Bilder. Das Bild des vor Napalmbomben fliehenden Mädchens führte zur Wende im Vietnamkrieg. Die Bilder der Särge abtransportierenden italienischen Militärlastwagen führten zur plötzlichen und widerspruchslosen Akzeptanz von Notrechtmassnahmen europaweit. Welches Bild braucht es für eine Wende, die rasche und vollständige Rücknahme der Massnahmen?
Lemmingen gleich verordnen Politiker die überall gleichen Massnahmen. Grossbritannien knickt nach anfänglichem Widerstand ein, bleibt noch Schweden. Sonst herrscht überall der Primat der Gesundheit. Wo bleibt das Land, das, «whatever it takes», eine rasche, breitflächige Durchseuchung der Bevölkerung knapp unterhalb der Belastungsgrenze des Gesundheitssystems anstrebt? Als mögliche Belohnung winken die rasche Wiedergewinnung weltweiter Bewegungsfreiheit, geringere Notfallmassnahmen-induzierte Kollateralschäden, weniger schulschliessungsbedingte Ungleichheit und mehr.
Was macht der Bundesrat? Er strebt neuerdings eine Zahl neuer Fälle unter 100 pro Tag an. Sein Argument: Nur so sei konsequentes Nachverfolgen weiterer Ansteckungen logistisch möglich. Ist es das uneingestandene Ziel der Regierung, unter horrenden Qualen und Kosten für das Volk einigen App-Entwicklern Studien zu ermöglichen? Diese Strategie wird die Pandemie verlangsamen, nicht stoppen. Gibt es eine elendere Perspektive, als während der nächsten achtzehn Monate maskenbewehrt, «socially distanced» und von der eigenen Regierung kujoniert dahinzuvegetieren?
Handeln in Ungewissheit
In den Task-Forces wimmelt es von Epidemiologen, den Apparatschiks der modernen Medizin, die Daten sammeln, wenn die Schlacht längst vorbei ist. Nun mutieren sie zu Propheten. Die Datenlage ist unsicher und widersprüchlich. Kein Problem, das Computerprogramm berechnet ja den Pandemieverlauf auf die Kommastelle genau. Die zu treffenden Schutzmassnahmen sind alternativlos und kristallklar, werden auf allen Kanälen mit Nachdruck propagiert.
Die Spitäler stehen halb leer, die Intensivstationen sind nicht überlastet, die gemalten Katastrophenszenarien waren offensichtlich falsch. Verantwortliche Experten und Regierung schweigen vornehm dazu, malen stattdessen das nächste Katastrophenszenarium einer zweiten Pandemiewelle an die Wand. Gibt es stichhaltige Gründe, den neuen Szenarien mehr zu vertrauen?
Der Kampf gegen die neue Pandemie, deren Verlauf niemand kennt, erfordert Entscheide auf unsicherer Grundlage. Risikoaversion ist keine wünschenswerte Eigenschaft für Politiker in Krisenzeiten. Task-Forces dienen bestenfalls als Deckmäntelchen für die eigene Entscheidungsunfähigkeit. Zahlen wir den Preis für das zunehmende Fehlen mutiger und unabhängig denkender Persönlichkeiten in Regierung und Parlament?
Ich trotze den Notmassnahmen, verlasse mein quarantänekonformes Domizil, mache mich unmaskiert auf den Weg zur Bootshaab am See. Maskentragende Zombies, so weit das Auge reicht, ausweichend, abweisend, bonjour tristesse!
Wir sind sterblich. Weder die Notmassnahmen noch die Apparatschiks verhelfen uns zum ewigen Leben, die Epidemie wird weitere Opfer fordern. Der Verlauf der Epidemie in unserem Land ist gutartig. Aber steht die durch die Notmassnahmen möglicherweise erreichte Verlangsamung der Ansteckungen nicht in groteskem Missverhältnis zu den induzierten Schäden medizinischer, sozialer und gesellschaftlicher Natur? Und, übelstes aller Übel, die Massnahmen verlängern die Dauer der Pandemie.
Eine Alternative: Schweizerinnen und Schweizer, werft eure Handys zu den Munitionskisten in die Seen, lebt, liebt, lächelt, lernt. Mir bleibt die Gnade der frühen Geburt.»
Urs Scherrer ist emeritierter Professor für Medizin an der Uni Lausanne und Forschungsgruppenleiter am Inselspital. Diesen Artikel hat er für das NZZ-Feuilleton verfasst sowie Uzwil24 zur Verfügung gestellt.