Nationalrat Roger Köppel schreibt in seinem neuen Weltwoche-Editorial zu Corona: «Wir müssen raus aus dem Käfig, zurück ins Leben.» Die Menschheit werde krank, wenn sie für ihre Gesundheit ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage opfere.
(Roger Köppel)
«Noch nie hatten die Regierungen so viel Macht auf der Grundlage so lückenhafter Daten. Allmählich sehen wir klarer. Der Lockdown muss enden.
Um Besserwisserei zu vermeiden: Das Coronavirus ist weitgehend unbekannt. Man weiss wenig und wusste am Anfang noch weniger. Gegen diesen Erreger haben die Menschen noch keine Immunität. Wenn sich so etwas schnell ausbreitet, sind alle überfordert. Regierungen ohnehin. Niemand will es auf die leichte Schulter nehmen. Keiner geht ein Risiko ein. Vor dem Ungewissen herrscht die Panik.
Trotzdem müssen die Politiker für ihre Entscheide geradestehen. Die Regierungen regieren mit diktatorischen Vollmachten. Um Ansteckungen zu vermeiden und Leben zu retten, haben sie ganze Kontinente eingesperrt und die Wirtschaft an die Wand gefahren. Langfristig wird die Krise Gutes produzieren. Aber das Leben ist nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei ewigen Dunkelheiten. Es fällt ins Gewicht, was man in der Gegenwart kaputtmacht.
«Noch nie hatten die Regierungen so viel Macht auf der Grundlage so lückenhafter Daten.» (Roger Köppel)
Wie schlimm ist die Corona-Krise? Brechen wir die italienischen Desaster-Zahlen auf die Schweiz herunter. Wir sind zwar viel besser dran, Tendenz positiv, aber das Italien-Beispiel markiert eine Art Obergrenze des Schreckens. 30 Tote pro 100 000 Einwohner ergäbe für die Schweiz eine Gesamtzahl von 2550 Menschen, die schlimmstenfalls mit oder an Corona sterben. Stand heute beträgt das Durchschnittsalter der Schweizer Corona-Toten 83 Jahre. 97 Prozent davon hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz beträgt 83 Jahre. Zum Vergleich: Während der Grippesaison 2015 starben in der Schweiz 2500 Menschen. Das mit Abstand dramatischste Corona-Szenario wäre ungefähr so schlimm wie die letzte grosse Grippewelle.
Klar: Die Zahlen steigen noch. Und sie sind mit Vorsicht zu betrachten. Bei der katastrophalen Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs war die zweite Welle tödlicher als die erste. Als sich die Menschen sicher glaubten, schlug die Krankheit nochmals zu. Auch das Coronavirus ist nicht besiegt. Nach dem Lockdown könnte sich die nicht immune Mehrheit der Bevölkerung anstecken. Die aktuellen Sterbequotienten verschlechtern sich vielleicht. Trotzdem: Es ist schwer vorstellbar, dass die Schweiz italienische Verhältnisse erlebt mit Spitälern als Virenherden. Und selbst in diesem unwahrscheinlichen Extremszenario käme sie kaum schlechter durch die Corona-Krise als durch die letzte grosse Grippewelle.
Haben wir es mit den Gegenmassnahmen übertrieben? Die Frage drängt sich auf. Die Ansteckungskurven verflachen sich. Nicht einmal im Tessin sind die Spitäler überlastet. Die Zahl der täglichen Corona-Toten nähert sich in der Schweiz dem Nullpunkt. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Lockdowns betragen nach Schätzungen vier Milliarden Franken wöchentlich, steil steigend. Der Bundesrat hat ohne Parlamentsbeschluss bereits Geldspritzen in der -Höhe von mindestens 61 Milliarden Franken bewilligt, ein Himalaya von Steuerzahlergeld. Mit solchen Summen liesse sich mühelos die AHV sanieren oder ein Grippezentrum bauen mit 5000 Intensivbetten, verteilt auf mehrere Kantone. Es ist gespenstisch, wie leicht- und freihändig diese Beträge gesprochen werden in einem Land, das jahrelang über Trottoir-Verbreiterungen oder Kampfjets streiten kann.
«Anstatt gezielt zu schützen und abzuschirmen, auferlegt der Bundesrat der ganzen Schweiz gigantische Opfer mit unabsehbaren Langzeitfolgen.» (Roger Köppel)
Die Medien loben die Strategie des Bundesrats. Hatte er denn eine? Dass sich Viren nicht mehr verbreiten, wenn alle zu Hause bleiben, weiss jedes Kind, nachdem es erstmals heftiger an Grippe erkrankt ist. Man braucht kein Heer von Epidemiologen und Virologen, um den Entscheid der allgemeinen Selbsteinbunkerung zu begründen. Jetzt, da die Kurven des Unheils weniger gefährlich aussehen als befürchtet, ist es höchste Zeit für den Ausstieg aus dem Gefängnis der Quarantäne. Risikobasierte Szenarien liegen bereit. Wir müssen raus aus dem Käfig. Und zurück ins richtige Leben.
Hilft uns Corona, die Prioritäten zu justieren? Gesundheit ist wichtig, keine Frage, aber Gesundheit ist nicht alles. Die Menschheit wird krank und stirbt, wenn sie für ihre Gesundheit ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage opfert. Wirtschaft ist nicht Gegenteil, sondern Voraussetzung der Volksgesundheit. Ohne Wirtschaft verhungern die Leute, gibt es keine Industrie, keine Medikamente, keine Altersvorsorge, kein Gesundheitswesen. Simple Wahrheiten gehen vergessen in Zeiten des Wohlstands. Dank der Seuche kehrt die Wirklichkeit zurück. Der Sinn für Grenzen. Eine Welt, die ohne Gott lebt, verdrängt auch den Tod. Man kann ihn nicht besiegen. Nicht mit allem Geld der Welt.»