Die Berichterstattung über Corona ist von Angst und Ratlosigkeit geprägt. Dass es nicht nur eine Möglichkeit zur Krisenbewältigung gäbe, zeigt Holland. In dieselbe Richtung denkt Weltwoche-Verleger Roger Köppel und stellt Uzwil24 sein aktuelles Editorial zur Verfügung.
Roger Köppel/Weltwoche: «Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, legt der Bundesrat im Sog anderer Regierungen die Schweiz lahm. Die Demokratie wird ausser Kraft gesetzt. Die wirtschaftlichen Verheerungen sind gigantisch, womöglich schlimmer als die Krankheit.
Alle applaudieren, niemand hinterfragt. Der Bundesrat hat die Schweiz zu einer Art Sperrgebiet erklärt. Das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft werden fast auf den Nullpunkt heruntergefahren. Nicht alle werden die Vollnarkose überleben. Die Notmassnahmen sind legal beschlossen worden, auf der Grundlage eines weitreichenden Epidemiengesetzes. Seit dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte keine Schweizer Regierung mehr Macht in ihren Händen. Niemand weiss, wann der Ausnahmezustand enden wird. Nicht einmal die SVP, sonst als nicht besonders regierungsfreundlich bekannt, äussert Kritik.
Selbstmord aus Angst vor dem Sterben
Verantwortungsvolle Politiker müssen immer die Frage nach der Verhältnismässigkeit getroffener Massnahmen stellen. Was ist das Problem? Wie kann es gelöst werden? Zu welchem Preis? Kosten-Nutzen-Analysen sind, wenn es um Gesundheit und ums Leben geht, naturgemäss unerwünscht, aber sie bleiben notwendig. In der herrschenden Corona-Angst scheint man sich dieses Erfordernis gänzlich ersparen zu wollen. Alle Mittel sind der Regierung und den politischen Parteien recht, um die Ausbreitung des Erregers zu verlangsamen. Gleichzeitig beschleicht viele ein ungutes Gefühl. Ist die Schweiz, ist die Welt im Begriff, aus Angst vor Ansteckungen wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen?
Wer ein Risiko bekämpfen will, muss es nüchtern analysieren. Die neuartige Corona-«Grippe» wurde letzten Dezember erstmals in China entdeckt. Möglicherweise sprangen die Viren an einem Fischmarkt von Tieren auf den Menschen über. Am Ursprung der Seuche sollen dichtgeballte Schwärme von Fledermäusen stehen. Man vermutet, dass sich das Coronavirus schneller ausbreitet als herkömmliche Grippe-Erreger. Allerdings sind wir bereits hier in der Kampfzone akademischer Auseinandersetzungen. Die einen sagen, ein Corona-Infizierter stecke bis zu dreimal mehr Menschen an als ein Grippekranker. Andere behaupten, die Coronaviren seien weniger ansteckend als Influenza oder Masern.
Alle rennen in die gleiche Richtung
Genaueres ist über die Gefährlichkeit des neuen Erregers im Umlauf. Man weiss, dass die Corona-Erkrankung für den Grossteil der Infizierten nicht besonders gefährlich ist. Wirklich gefährlich ist die Seuche vor allem für alte und gleichzeitig kranke Personen. Unter den Jüngeren können schwerwiegend Vorerkrankte in ernste Not geraten. Neue Hochrechnungen des Imperial College in London befürchten zwar einen grösseren Prozentsatz an Intensivpatienten in der Gruppe 50 plus, aber das sind Szenarien, keine Messungen. Das durchschnittliche Alter der bisherigen Corona-Toten liegt bei rund 80 Jahren für Männer und bei 84 Jahren für Frauen. Männer erkranken häufiger schwer als Frauen.
Das sind die Fakten. Viele Virologen sind der Ansicht, dass wir die Ausbreitung des Virus gar nicht stoppen können. Die Natur bricht sich Bahn. Am Ende dürften sich rund 70 bis 80 Prozent der Menschheit anstecken, die allermeisten voraussichtlich ohne gesundheitliche Probleme. Die Gefahr von Corona-Mutationen in Richtung Killervirus schliessen die von uns befragten Experten aus. Der Erreger werde im Zuge seiner Verbreitung ungefährlicher. Die Menschen bilden Immunkräfte, und neue Viren entstehen. Es ist kein ungewöhnlicher Prozess. Umso dringlicher stellt sich die Frage: Mit welchen Massnahmen soll die Corona-Pandemie vernünftigerweise bekämpft werden? Stimmen Aufwand und Ertrag?
Verblüffend ist, dass genau diese Fragen gegenwärtig keine, aber auch gar keine Rolle zu spielen scheinen. Weil alle in die gleiche Richtung marschieren, marschiert auch die Schweiz, marschieren Bundesrat, Medien, Parteien, ja weite Teile der Öffentlichkeit in gespenstischer Nicht-Distanz einher. Die Amerikaner machen es wie die Chinesen, die Österreicher wie die Amerikaner, die Deutschen und Franzosen wie die Italiener, und alle Staaten scheinen sich eine Art Überbietungswettlauf zu liefern. Wer kann noch einen draufsetzen? Eine unheimliche Entgrenzung ist im Gang. Selbst US-Präsident Trump hat seine abschreckende Wirkung verloren und fällt kaum mehr auf im neuen Mainstream der allgemeinen Selbsterdrosselung.
Anders als die Medien und die Parteien durch ihre einhellige Zustimmung suggerieren, hätte der Bundesrat durchaus Handlungsalternativen. Anstatt die ganze Schweiz lahmzulegen, Schulen und Betriebe zu schliessen, Unternehmer in den Ruin und die Volkswirtschaft in den Kollaps zu treiben, wäre es denkbar, vor allem die Minderheit der speziell Gefährdeten unter strengste Schutzquarantäne zu stellen. Man könnte die akut bedrohten alten Menschen und die Risikopatienten abschirmen, notfalls isolieren, ohne die ganze Wirtschaft in Flammen zu setzen. Natürlich kann man alle einsperren, um wenige zu schützen. Aber ist es nicht unverhältnismässig, die Nicht-Risikogruppen gleich zu behandeln wie die Risikogruppen, denen eine tödliche Gefahr droht?
Differenzieren verboten
Die Schweiz scheint die Fähigkeit zu verlieren, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. In vielen Sphären der Gesellschaft verwischen relevante Unterschiede. Im Klassenzimmer dürfen schwache und stärkere Schüler nicht mehr getrennt werden. Im Flüchtlingswesen hat man aufgehört, zwischen echten und falschen Flüchtlingen, zwischen Migranten, Wirtschaftsflüchtlingen und wirklich an Leib und Leben Verfolgten zu differenzieren. Wer unterscheidet, macht sich angreifbar. Wer alles in einen Topf wirft, geht den bequemen Weg. Deshalb ist die Beschwörung differenzblinder Gleichheit so attraktiv für Politiker. Sie blockt negative Schlagzeilen und sichert Applaus.
«Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Nach der berüchtigten Autokratenformel des deutschen Juristen Carl Schmitt verfährt in Zeiten von Corona der Bundesrat. Er schränkt die Freiheitsrechte der Bürger und Betriebe massiv ein. Derweil haben die Konjunkturforscher in der Verwaltung schlaflose Nächte, weil sie erkennen, dass die Regierung mit ihrer Totalquarantäne ein Rezessionsmonster entfesselt ohne die Instrumente, um es wieder einzufangen. Niemand weiss, wann und nach welchen Kriterien der Bundesrat sein Vollmachtenregime wieder aufhebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte es fünf Jahre und eine Volksabstimmung, bis die Volksrechte zurückkehrten. Ab welcher Zahl von Infektionen oder Toten wird der Ausnahmezustand heute aufgehoben? Proportionen geraten aus dem Blick. Im Jahr 2015 starben alleine in der Schweiz 2500 Menschen an Grippe. Die Hongkong-Grippe 1968 forderte global eine Million Tote. Mindestens. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe waren schweizweit rund 20 Corona-Tote aus der bekannten Risikogruppe zu beklagen, Tendenz allerdings steigend.
Selbstsucht im Zeichen der Solidarität
Der Bundesrat beruft sich auf «Zusammenhalt» und «Solidarität». Da fühlen sich alle angesprochen. In der Praxis ereignet sich das Gegenteil. Die Notmassnahmen beflügeln rationale Selbstsucht und Hamsterkäufe. Alle schauen für sich, und jeder ist sich selber der Nächste. Wenn Regierungen den internationalen Notstand erklären und die Wirtschaft abwürgen, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute ihre Vorratskammern füllen. Möglicherweise ist die Angst vor dem immer realer werdenden Wirtschaftsinfarkt inzwischen grösser als die Angst vor dem Erreger.
Obschon alle Schulen geschlossen wurden, strömten die Kinder am ersten frühlingshaften Notstands-Wochenende in Scharen auf die Fussballfelder; ohne «Social Distancing». Paare und Passanten flanierten in Küsschendistanz über die städtischen Plätze. Als besonders immun gegen die bundesrätliche Pandemiewarnung erwiesen sich allerdings die gefährdeten Senioren. Man hat dafür sogar Verständnis. Kaum ein über Achtzigjähriger, der die Sonne noch geniessen kann, dürfte sich von der Politik seine kostbare Lebenszeit durch eine Art Isolationsarrest in den eigenen vier Wänden nehmen lassen. Viele der Älteren, zu deren Schutz sich die Schweiz isoliert, möchten sich im Spätherbst ihres Lebens vielleicht gar nicht isolieren lassen. Die bundesrätliche Solidarität empfinden manche, die damit beglückt werden sollen, als Zumutung des Freiheitsentzugs.
Wenn Dämme brechen
Schiesst der Bundesrat mit seinem Notstandspaket massiv übers Ziel hinaus? Gut möglich. Es fängt schon bei den Begriffen an. Bundespräsidentin Sommaruga spricht davon, dass alle gleichermassen von Corona «betroffen» seien. Das stimmt – und ist doch irreführend. Entscheidend ist nicht der Betroffenheits-, sondern der Bedrohungsgrad. Und der liegt nach heutigen Erkenntnissen bei den Risikogruppen deutlich höher.
Die verfälschende Problemverallgemeinerung kann zu falschen Lösungen führen. Anstatt gezielt zu schützen und abzuschirmen, auferlegt der Bundesrat der ganzen Schweiz gigantische Opfer mit unabsehbaren Langzeitfolgen. Die Börsen stürzen ab. Konkurswellen rollen an. Existenzen werden vernichtet. Kein Risiko trägt eigentlich nur die Regierung: Gibt es weniger Tote als erwartet, ist es wegen ihrer Politik. Gibt es mehr Tote als befürchtet, liegt es am Virus. Geht die Wirtschaft unter, bekommen die Bundesräte trotzdem ihren Lohn. Ausbaden müssen es andere.
Die Dämme werden brechen. Schon heute ruft die Wirtschaft nach dem Staat. Die Regierung wird nicht nein sagen können, weil sie mit ihren Massnahmen die Misere selbst hervorrief. Der Bundesrat gerät in Geiselhaft von Unternehmen, Medien und Parteien. Wer bekommt Geld? Wer geht bankrott? Die Allmacht der Politik wird den Staat aufblähen wie im Krieg. Ein neuer Kollektivismus bricht aus. Er könnte die Schweiz auf Dauer verändern. Nicht zum Guten.
Anders macht es Grossbritannien. Mutig schwimmt Premier Boris Johnson gegen den globalen Strom. Statt die Wirtschaft ins terminale Koma zu befördern, setzt er auf gezielten Schutz der «sehr kleinen, aber wichtigen Gruppe» der besonders Gefährdeten. Schulen bleiben offen, das Leben geht weiter. Ob es gelingt? Ob er es durchhält? Keiner weiss es. Niemand hat das Rezept. Alle sind auf einem Blindflug, Bundesrat, Medien, Politik, der Schreibende inbegriffen. Gerade auf einem Blindflug aber ist es nötig, laufend den Kurs zu hinterfragen. Nur die Abgründe, die wir nicht sehen, bringen uns um.
Ein neuer Kollektivismus bricht aus.»